Psychologie

Und führe uns nicht in Versuchung,

sondern erlöse uns von dem Bösen.

(Matthäus 6,13)

Liebe Leserin, lieber Leser!

 

Jeder 3. Mensch kommt einmal in seinem Leben einmal mit Psychiatrie in Berührung. Dies gilt bislang als großer Makel, insbesondere für diejenigen, die in einer — wie es so schön genannt wird — psychiatrischen "Klinik" gewesen sind.
Selbst ich war schon in einer solchen Klinik gewesen und stehe dazu, da es für mich das beste war.

Man ist geisteskrank, sagt man. Oder modern: Man ist psychisch krank oder psychisch behindert. Man schämt sich. Man fühlt sich krank. Man versteckt sich. Man schweigt. Man hat versagt. Man ist eben eben "krank". Diejenigen, die einen als krank sehen, fühlen sich umso gesünder. Schließlich sitzt man ja in der Anstalt und nicht sie. Aber was heißt es eigentlich, "psychisch krank" zu sein, und was bedeutet "psychische Gesundheit"? Es gibt verschiedene Bestimmungen von Geistes-Gesundheit und Geistes-Krankheit. Die einen sagen, Geisteskrankheit ist, wenn man nicht normal ist; und normal ist die Mehrheit — wer nicht auffällt. Manche sagen, Geisteskrankheit sei hirnorganisch bedingt — und wenn es dafür noch keine Beweise gibt, eines Tages findet man sie bestimmt. Und solche hirnorganische Störungen seien entweder erblich bedingt oder treten rein zufällig auf; sie fallen quasi vom Himmel. Andere sagen:

Geisteskrankheit, Wahnsinn, Psychose, Schizophrenie usw. kann man nicht verstehen; ja man darf dies gar nicht versuchen, dies sei gefährlich — gar ansteckend? Es ist verlockend, sich die Ursache einer "Geisteskrankheit" als Stoffwechselstörung vorzustellen. Man nimmt eine Pille und schon ist man wieder "geheilt'. Eigenverantwortung braucht man nicht zu übernehmen, Hauptsache: man funktioniert wieder und kommt zurecht mit den anderen und andersrum ebenso — auch wenn man unter Pharmako-Einfluß vor sich hindämmert. Man setzt diesem "Verständnis" des Wahnsinns ein anderes gegenüber: Er drückt unsere Unfähigkeit, aber auch unseren Widerstand aus, diese Normalität als eine "gesunde" ertragen zu können.

Man sieht im Wahnsinn die Absage der Gefühle an diese Gesellschaft (mit ihren Konkurrenzzwängen, Konsumzwängen, Leistungszwängen, Hierarchien, entfremdeter Arbeit und entfremdeten menschlichen Beziehungen, Kopflastigkeit). Man ist anpassungsfähig an die Normalität. David Cooper schreibt, der Normalisierungszustand beruhe auf dem Verlangen nach einem gleichförmigen, zunehmend bequemen, sicheren, "glücklichen" und leichten Leben, was sicher eine Art Tod sei. Dementsprechend würden alle Lebenszeichen, ekstatische Intensitäten der Erfahrung und orgiastische Liebe verboten. Wir sind alle auch anpassungsunwillig.

Dieser Wahnsinn hat jedoch auch eine gefährliche Seite: Sie führt einen in die Klauen der Psychiatrie. Und diese wiederum versucht mit aller GEWALT, den Sinn des Wahnsinns zu zerstören, verbergen, unterdrücken und abzusprechen. Und dabei ist es so einfach: Inhalt, Form und Ausmaß des Wahnsinns sind Signale und Botschaften. Sie drücken— in der jeweiligen individuellen Form — unsere (unbewussten, deshalb umso gefühlsbetonteren) Antworten auf die Unterdrückung der eigenen Bedürfnisse und Möglichkeiten durch unsere Umwelt aus. Diese ist es, die die Anerkennung unserer Anforderungen und der Wünsche verweigert. Für die Mitmenschen ist eine solche Erkenntnis schwer Sind es doch sie, die einen enttäuscht haben. Sie haben aber auch Angst, einen so, wie man ist, zu akzeptieren. Denn durch die Andersartigkeit werden sie selbst — in ihrer angepassten Normalität — in Frage gestellt. Überlegt Euch, was Ihr mit zu dieser Gesellschaft beitragt, die uns kaputtmacht und unsere Persönlichkeit auslöschen will. Der einzige Unterschied zwischen 'Gesundheit' und 'Krankheit' besteht nur darin, dass der 'Gesunde' sich mit ein bisschen Glück ein genügendes Maß an normalen Strategien bewahrt hat, das es verhindert, dass er zum 'Invaliden' oder 'Patienten' geworden ist. Sehr schnell kann sich dies ändern.

 

 

© Michael Rebentisch 2010